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Bernadett Madörin

Spurensicherung im Dienst einer Neudefinition des Naturschönen

von Adrian Hürlimann

Als Kinder flochten wir Kränzchen aus Gänseblümchen und schmückten damit unser Haar, jedenfalls die Mädchen unter uns, und wir steckten Gänseblümchen durch Löwenzahnstiele, knickten diese unterhalb der Mitte und liessen sie nicken, indem wir den dicken Stengel festhielten und mit der anderen Hand am dünnen Stengel zogen.

Bernadett Madörin erinnert sich daran, wenn sie im eigenen Garten von Strauch zu Baum lustwandelt oder wenn sie, zu Fuss unterwegs zum Atelier in Baar, an den Maisfeldern der Lorzenebene vorbeispaziert. Seit zehn Jahren hält sie die Faszination gepackt, ins Innenleben der verschiedensten Pflanzen vorzudringen, in die Kelche, Blüten und Knospen. Sie erschloss sich so ihren eigenen floralen Mikrokosmos, ein vergeistigtes Konvolut aus bestimmten Pflanzen, teilweise von der zufälligen Begegnung mit der Umgebung animiert, teilweise mit dem Eros des forschenden Aneignens zielstrebig in Betracht gezogen. Am Anfang stehen der wache Blick, die Lupe der Botanikerin, das Mikroskop, am Ende der Scanner des Computers und schliesslich der Zeichenstift und der Aquarellpinsel.

Es gelang ihr, die Löwenzahnblüten im Moment des fragilen Verblühens zu verfestigen, haltbar zu machen - wie, das bleibt ihr Geheimnis - und sie in häuserförmigen Vitrinen auszulegen, geschützt vor dem Wind. „Kindheit" hiess dieses Objekt von 1997, Lupen wurden beigelegt, damit der Betrachter vom Forscherinnendrang Bernadett Madörins angesteckt werde. Mitbeobachten sollte, wie lange es hält, bevor es „vergheit". Aus den geöffneten Enden der Stengel wurden Stempel, ein Aderlass fand statt, die ausfliessende Milch durchsetzte die Papierblätter wie geronnenes Blut.

Während Jahren ging es ihr darum, Momente festzuhalten. Da waren die Artischocken-Samen, deren obere Teile, aufgefädelt, zum Flugobjekt wurden. Bernadett Madörin klebte sie auf Bienenwachs, um sie festhalten zu können. Da waren die aus den Kolbentaschen hervorlugenden Griffelbüschel des Silo- und Süssmaises, die so verblüffend an Schamhaare erinnern. Wie Rastafrisuren sehen sie aus, wenn sie zu Beeten angeordnet werden. Klammer auf: Blüten sind Sexualorgane, und wenn sie schamlos genug gemustert werden, verschwinden gar die Grenzen zwischen Zoologischem und Botanischem, zumal Insekten als promiske Fremdgänger und Samenschleudern fungieren, ohne dabei rot zu werden. Wir erkennen rückblickend, dass es der Bienchen gar nicht bedurft hätte, damals im Biologieunterricht, um via Fremdkreatur zu menschlich-intimen Tatsachen vorzustossen. Und erinnern uns, dass die Schönheit des Outfits, der Blumenkelche und Fruchtknospen, nicht für alle Gattungen innerhalb des Naturkosmos folgenlose art pour l’art ist. Klammer zu.

Bernadett Madörin freilich hält sich an den Umkehrschluss: Das rein Funktionale enthält, etwa in der formalen Vielfalt, auch eine ästhetische Qualität. Das Naturschöne wird nicht nur im Gesamtzusammenhang offenbar, auf der Makroebene, etwa im Ensemble der Landschaft, sondern auch im Detail, zumal im Mikrokosmos. Es sieht allerdings anders aus als in Landschaftsstudien oder Blumenstilleben. Die Irritation besteht darin, dass diese rätselhaften Objekte so sehr an künstliche Materialien und Figurationen erinnern. Die Samenfäden der Klematisblume etwa, die, speichenförmig um eine Achse angeordnet, aus glänzendem Plastik oder Metall zu sein scheinen. Den zünftigen Botaniker schert dies wenig. Und Gesamtgelehrte vom Schlage Goethes, die sich für die Morphologie des Ganzen interessierten, für das Typische querbeet durch die Grössenordnungen, Leute, denen die reine Anschauung als gleichwertige Erkenntnis galt, diese Spezies ist wohl ausgestorben.

Worin solche Anschauung aus nichtfunktionaler, nicht plump-kausaler Sicht bestehen könnte, das wird in den neueren Arbeiten Bernadett Madörins deutlich. Sie gruppiert die Fundstücke nicht mehr zu Installationen wie bis anhin, sondern geht systematisch - soviel färbt die Beschäftigung mit dem biologischen Phänomenen denn doch ab - systematisch via Abbild der Variation auf den Grund. Vom blossen Auge gerade noch erkennbare elementare Organe wie Samen, Knospen, Träger des Lebens also, Satelliten, Transmitter und Rettungsboote, denen geheimnisvolle Botschaften eingeschrieben zu sein scheinen, ihnen gilt ihr Augenmerk. Die Beschäftigung mit ihnen, gefunden in sechs Pflanzen, bildet den Hintergrund zu den Bilder- und Blätterserien dieser Ausstellung: Blauglockenbaum, Platane, Heckenrose, Waldrebe, Ringelblume und Mais. Exoten finden sich neben längst eingebürgerten Flüchtlingen.

Da ist die chinesische Kaiser-Paulownie. Die lila Blütenpracht des Baums - geschenkt! Bernadett Madörin blickt hinter diese Kulissen, frech hinein in die Knospen neben den Blättern. Darin befinden sich, millimetergrosse spielzeughafte Figürchen, anthropomorph, das ist unübersehbar: Sie bestehen aus einem Kopf, Hals und Extremitäten und schmiegen sich in einen schützenden Kelch. Assoziationen an Marienfiguren stellen sich ein. Neuerdings legt Bernadett Madörin solche Objekte direkt auf den Scanner, lässt den Computer gleichsam ein digitales Abbild erstellen, das anschliessend ausgedruckt wird. Dann aquarelliert sie die zweidimensional zubereiteten Abbildungen oder zeichnet sie mit dem Bleistift fein säuberlich ab.

Anschliessend nimmt sie diesen Vergrösserungsvorgang wieder zurück, indem sie die so entstandenen A-4-Formate wieder ins Postkartenformat verkleinert Die Entfernung der Übersetzung des Ausgangsmaterials wird somit zurückbuchstabiert. Es entstehen Serien, welche den vergleichenden Blick ermöglichen, die Gesamtschau. Den schnellen Zugriff auf die Vielfalt der Erscheinungsformen, hinter denen und durch sie hindurch das jeweilige biologische Prinzip um so deutlicher aufscheint.

Im eigenen Garten am Lorzenufer entdeckte Bernadett Madörin die Ringelblumen (Calendula officinalis). Ihre Samen, gerade noch sichtbar von blossem Auge, sind von einer durchschlagenden Polymorphie. Man denkt an dynamisch sich ringelnde Raupen, an Würmer und Insekten, an Echsen, an Fische oder Seepflanzen, an Penisformen. Das Bild überlagert sich alsbald. Die Eckpunkte der abstrakten Bildhauerkunst des ganzen Jahrhunderts scheinen kurz auf. Arps organisches Kabinett zum Beispiel, anthroposophische Architektur, Hundertwasser. Der blumige Jugendstil aber, der fehlt. Viel zu ästhetisch!

Ist das nun Kunst? Künstlich ist jedenfalls der Blick, der hier eingeübt wird. Denn die Natur betrachtet sich nicht selbst. Und die Biologen - nun ja, die ziehen das Analysieren dem ziellosen Betrachten vor. Es ist Kunst, denn Kunst kommt nicht von Können, sondern von künstlich. Künstliches zu finden ist nicht so leicht in einer Welt, die zum globalen Dschungel verkommen ist. Aber sinnvoll. Nur mittels Mobilisierung der Irritation im Blick gelingt es, das Klischee einer heilen Naturwelt abzubauen und deren Instrumentalisierung auszuweichen.

Neben Studienblättern sind 30 Ständer mit insgesamt 180 Kartenserien zu sehen. Einige der Serien werden im Internet zu finden sein. Fünferblocks. Anklicken, und schon erscheinen sie gross. Abbilder und Zeichnungen. Pflanzenfragmente gibt es diesmal keine. ,,Die Originale zeige ich nicht", sagt Bernadett Madörin, „es gibt so etwas wie ein Geheimnis, das ich bewahren möchte. Wer sich dafür interessiert, soll nur die Augen aufmachen", sagt sie, „dann wird er diese Dinge in der Natur entdecken. Alles Wesentliche ist winzig klein".

Adrian Hürlimann

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